Rumänien: Die Staatsflucht
Rumänien liegt wirtschaftlich am Boden, trotz seiner zehnjährigen EU-Mitgliedschaft. Dabei sind fehlende Investitionen aus dem Ausland nicht das Problem. Die geringen Lohnkosten locken zahlreiche Unternehmen nach Südosteuropa. Aber sie finden keine Arbeitskräfte. Die Vollbeschäftigung ist nicht eine Folge eines Wirtschaftsbooms, sondern des Massen-Exodus aus dem Land. Die Staatsflucht bedroht das Land mehr und mehr.
Die Straßen sehen verlassen aus, nur wenige Menschen gehen entlang aufgerissener Gehsteige und reparaturbedürftiger Häuser. Irgendwo hört man ein lautes Hämmern, hier das Kreischen einer Säge, weiter weg das müde Bellen eines Hundes. Resita hat schon bessere Tage gesehen. Die Stadt war früher eines der Industriezentren des Landes, das Stahlwerk so etwas wie die Identität der Region. War? Das Werk, mittlerweile in privaten Händen der russischen TMK, beschäftigt zwar heute noch Arbeiter, doch die rostige Silhouette ist eher ein Blick zurück in Zeiten kommunistischer Planwirtschaft als ein Hoffnungsschimmer der Gegenwart.
Exportschlager Rumäniens: Erdöl, Deutsche und Juden
Die Auflösung des rumänischen Systems Ceausescu hatte in Resita Folgen. Die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung ist abgewandert, da Unternehmen schlossen und keine Arbeit zu finden war. Jetzt, im langsamen Wiederaufbau, auch unter Mithilfe der Europäischen Union, fehlen diese Arbeitskräfte. Paradoxerweise ist der Arbeitskräftemangel eines der größten Probleme der aktuellen rumänischen Wirtschaft. Wieso ist das so?
Die Abwanderung hat in Rumänien keine allzu lange Tradition, im Gegenteil. Am bekanntesten ist der Zuzug der Siebenbürger Sachsen im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Ihre Kultur prägt Siebenbürgen bis heute. Später folgten zahlreiche andere Ethnien in das Land. Mit der kommunistischen Machtübernahme nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich dies jedoch. Wie überall hinter dem Eisernen Vorhang wuchs der Gedanke, im Ausland sein Glück zu suchen (was auch immer das sein mochte, am ehesten politische Freiheit und materiellen Wohlstand). Der Sicherheitsapparat, die Securitate, hatte erfolgreich eine Atmosphäre der Furcht über das Land aufgezogen – niemand traute niemanden. Das Denunziantentum (offiziell hatte die Securitate rund 40.000 Mitarbeiter, aber auch 400.000 inoffizielle) war soweit verbreitet, dass man nicht einmal in der eigenen Familie wußte, wer für die Securitate als Informant tätig war. Ein legales Verlassen des Landes wurde praktisch nicht bewilligt (bis auf den Freikauf von 118.000 jüdischer Siedler zwischen 1948 bis 51 durch Israel und mehr als 200.000 Siebenbürger zwischen 1967 bis 1989 durch Westdeutschland; beides war neben dem Erdöl die wichtigste Export-Quelle für das kommunistische Rumänien). Und Flucht?
Gut 20% der Rumänen leben dauerhaft im Ausland
Rumänien grenzte an ein einziges Nicht-Ostblock-Land: Jugoslawien. Die Grenze bildete die Donau. Alleine in den 1980er Jahren versuchten über 16.000 Rumänen über dieses natürliche Hindernis das Land illegal zu verlassen. 12.000 wurden dabei erwischt, erschossen oder verhaftet und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Sie wurde zur blutigsten Grenze des Ostblocks (Das Buch „Mormintele tac“ – „Die Gräber schweigen“ von Doina Magheţi und Johann Steiner beschreibt diese Versuche durch zahlreiche Schilderungen von Augenzeugen). Gelang die Flucht, konnte man auch in Jugoslawien nicht sicher sein, dass die Behörden einen wieder nach Rumänien abschoben. Das Ziel war daher oft die österreichische oder italienische Grenze, wobei auch hier viele von den jugoslawischen Grenzschützern gestellt und nach Rumänien deportiert wurden. Die Flucht war nicht unmöglich, aber kein Unternehmen für die gesamte Familie. Wie auch immer sie ausging, sie riss sie auseinander.
Nach der Domino-artigen Auflösung des Warschauer Pakts, der Ablösung kommunistischer Herrschaft in zahlreichen osteuropäischen Staaten und letztlich auch dem Sturz Ceausescu‘ sollte eine neue Zeit in der modernen Geschichte Rumäniens anbrechen, löste aber eine ungebremste Emigrationswelle aus. Viele empfanden die Revolution als ein Coup der alten Garde gegen ihren Chef – die Kommunisten tarnten sich im demokratischen Kleid und hielt an den Hebeln der Macht weiter fest. Hunderttausende machten sich auf den Weg nach Südeuropa, hauptsächlich nach Italien und Spanien. Als Billiglohnarbeiter integrierten sich die Auswanderer dank der sprachlichen Nähe (Rumänisch ist eine romanische Sprache) vor allem am Land. Die rechtliche Grundlage für eine legale Niederlassung außerhalb Rumäniens in Europa erfolgte mit dem EU-Beitritt 2007 und verstärkte die Auswanderungsbewegung weiter. Doch diesmal waren es auch Fachkräfte, die das Land verließen und weiter verlassen: rund ein Drittel aller rumänischen Ärzte ist in Deutschland tätig. In Summe sind drei bis fünf Millionen Rumänen emigriert, bei einer Gesamtbevölkerung von rund 20 Millionen. Die Zahlen schwanken, da nicht jeder dauerhaft im Ausland verbleibt. So verdienen sich Saisonarbeiter in der Landwirtschaft ihren Lebensunterhalt auch für die restliche Zeit in Rumänien, oder Altenpfleger „pendeln“ monatlich zwischen Rumänien und ihren europäischen Gastländern. In den meisten Fällen bleibt ein Familienteil in Rumänien zurück, um Haus und Hof und die Kinder zu betreuen, während der andere begehrte Euro vom Ausland nach Hause schickt. Mittlerweile sind sehr viele ländliche Kommunen vom Geld der Emigranten und Gastarbeiter abhängig, während die Infrastruktur des Landes weiterhin danieder liegt.
Wer löffelt nun die rumänische Suppe aus?
Auch nach dem Fall Ceausescu ist die Staatsflucht die beliebteste Strategie, um der wirtschaftlichen Tristesse des Landes zu entkommen. Was das für das Land bedeutet, ist eindeutig. Nicht nur, dass viele Auswanderer eine Rückkehr ausschließen – sei es aus finanziellen Gründen, oder noch eher, weil das Sozial- und Bildungssystem nicht funktioniert; sondern auch viele ausländische Firmen, die sich in Rumänien in der Hoffnung auf niedrige Lohnkosten angesiedelt haben, stehen vor dem Aus: sie finden einfach keine Arbeitskräfte. Als Reaktion darauf öffnet Rumänien dem benachbarten Moldawien (ein ehemaliger Teil Rumäniens) seine Tore, um den Arbeitskräftemangel aufzufangen. Damit dreht sich die Spirale der Arbeitsmigration wieder ein Land weiter: Moldawien könnte das Gleiche blühen, was Rumänien derzeit mitmacht – eine massive Abwanderung gegen Westen und damit eine Destabilisierung des Landes.
Along the Carpathian mountains
a train of
wobbly seats and glossy lights
a little dog barks
and an old woman farts
Uf, a guy talks endlessly through the night
in a smoke of cigarettes
about life in Romania.
(‚train ride‘)
Paul O’Malley