Schlittenhunde: Arbeiten am Polarkreis
Die Vorbereitungen auf die Schlittensaison dauern Monate. Die Hunde werden unruhig, die Tage kürzer, und alsbald der Schnee fällt, kann es für niemand schnell genug gehen. Charly und sein Rudel Taimyr und Laika Nennets im finnischen Ivalo leben für die dunklen Monate mit Minus 30° C und dem Nordlicht über dem Nachtlager. Aber bis es soweit ist, ist mächtig viel zu tun.
Die Hunde von Charles sind keine Huskies, eine Rasse, die ich automatisch mit der Arktis, Schlitten und dem Winter im Schnee und Wind verbinde. Ich bin ein wenig enttäuscht, zu Unrecht. An einem Spätnachmittag treffe ich im Camp ein, auf einer einsamen Forststraße durch dichten Nadelwald, hinauf auf eine Anhöhe. Schon von Weitem höre ich die Hunde, ich weiß nun mit Bestimmtheit, dass ich mich nicht verlaufen habe. Als ich dem Anwesen näher komme, sehe ich einzelne Hundehütten, dann buschig behaarte Hunde an der Kette, jeweils an einem eigenen Baum; es werden immer mehr, und alle starren neugierig zu mir herüber. Mit einem Schlag empfängt mich ein lautes, wildes Bellen, aufgeregt springen sie in die Höhe. Ich bleibe noch vorsichtig in der Mitte des Weges, will noch keinem zu Nahe kommen. Meine erste Begegnung mit den Taimyrs und Laika Nennets.
Die Hunde von Charles sind Nachkommen von Expeditionshunden, die Gilles Elkaim auf seiner beachtenswerten, vier Jahre dauernden Solo-Tour vom Nordkap bis zur Beringstraße, am östlichen Ende Sibiriens, begleitet haben. Gilles ist in unseren Breiten eher wenig bekannt. Die Expedition brachte ihm einen Orden der französischen geografischen Gesellschaft ein, er veröffentlichte später ein Buch darüber (Link). Heute lebt Gilles nach einer weiteren Polarexpedition, die jedoch bereits in norwegischen Gewässern gescheitert ist, in Nordfinnland. Ein einziger Hund aus der damaligen sibirischen Expedition (2000-2004) ist noch am Leben.
Ruska, das Alpha-Tier, sorgt dafür, dass jeder seinen Platz in der Hierarchie von Charly abwärts kennt.
Es ist fünf Uhr morgens, ich liege im Bett und höre dem ersten, morgenlichen Heulen der Hunde zu. Es ist so unterschiedlich wie Menschen Stimmen haben. Puskin hechelt und röchet, Miji japst, Hundur bellt klar und laut, Rainbow klingt fast wie ein Bär. Ich höre ein Röhren wie das einer Kuh. Luna, die an einem Auge zwei völlig verschiedene Irishälften aufweist, heult laut, während Wolly sich wie ein Indianer bei einer Attacke anhört, sein Nachbar wie ein Kuckuck. Ein Hund jault sogar die Melodie vom „Spiel mir das Lied vom Tod“. Vielleicht ist es Koa, der Zappelphilipp im Rudel. Vielleicht Taziri, das Energiebündel, der vor Freude wie ein Boxer auf einen zuspringt.
Loar, einer aus der jüngsten Generation
Ihr Boss ist Charly. Franzose aus dem Loire-Tal, es hat ihn vor zwei Jahren hierher verschlagen: ein langjähriger Freund zog mit Frau und Kind in den finnischen Norden, brauchte eine verlässlichen Partner für das Schlittengeschäft. Mit nichts als ein paar Klamotten im Auto kam er hier an. Hat früher alle möglichen Jobs gemacht, ist in Frankreich viel umhergekommen. Bei der Eisenbahn Leitungen verlegt, im Forstwesen gearbeitet, am Bau und in der Landwirtschaft. Irgendwann will er seine eigene Ziegenfarm aufmachen und Käse produzieren. Er liebt Wein und Bier, aber vor allem gutes Essen. Im Camp gibt es selten Alkohol, aber seine Mama schickt ihm alle paar Wochen ein Frankreich-Paket: Schokolade und Käse, Aufstriche und einen Schnaps, ein paar dicke Socken und einen handgeschriebenen Brief. Zwei Mal im Jahr sehen sie sich, dann entwischt er wieder in den polaren Winter: Dunkelheit, minus 30°C, aufgeregte Hunde und Kunden hinter dem Schlitten.
Die Saison dauert vom Dezember bis April. In dieser kurzen Zeit wird Geld verdient, der Rest vom Jahr dient der Vorbereitung auf den nächsten Winter. Fast die ganze Aufmerksamkeit gilt dabei den Hunden – ihre Pflege, Ernährung, Erziehung und auch der Nachwuchs. Die Altverdienten werden nicht mehr vor den Schlitten gespannt, sondern genießen meist völlig frei ihren Ruhestand im Camp. Sie werden von allen anderen, am meisten von den anderen Hunden, respektiert. Ruska, das Alpha-Tier, sorgt dafür, dass jeder seinen Platz in der Hierarchie von Charly abwärts kennt. Sie schläft gelegentlich bei ihm in der Hütte, wie auch der Veteran Lofo, sein erklärter Liebling, der irgendwann auch zurück mit nach Frankreich gehen wird.
Die Innenschuhe aus Filz sind der Unterschied zwischen einem feinen Tag draußen im Schnee und einem bissigen Gesichtsausdruck.
Die Arbeiten werden, je näher die Saison heranrückt, hektischer. Alles blickt gespannt auf den Kalender, die Wettervorschau, den Himmel. Wenn die Temperaturen sinken und sich langsam eine Schneedecke über das Land legt, dann kommen viele Arbeiten zum Stillstand. Alle Gebäude im Camp müssen ausgebessert, gereinigt und inspiziert sein, bevor die ersten Kunden eintreffen. Es ist unendlich viel zu tun. Wege werden ausgebessert, die Schlittenrouten durch den Wald geschlagen. Feuerholzdepots angelegt, das Lager und die Küche für das Hundefutter errichtet. Die Dächer der Yurten und Kottas werden inspiziert, das Tipi mit einer Holztüre versehen. Die Schlitten müssen repariert, die Ausrüstung auf Vollständigkeit kontrolliert werden. Die Liste ist endlos und beschäftigt uns von früh bis spät, die ganze Woche, den ganzen Monat lang.
Samalak (Foto: T. ‚Teddy‘ Elliot Lane)
Die Tage werden merklich kürzer. Der kleine Hügel, der im Süden des Lagers nicht einmal einhundert Höhenmeter in die Höhe ragt, nimmt dem Tag die Sonne und auch bei klarem Himmel bleibt es nun kühl unter den Bäumen. Die Stirnlampe bleibt nun fortwährend aufgesetzt und wird immer früher aufgedreht. Wenn die Temperaturen unter -10° C fallen und ein lauer Wind durch den Wald weht, dann ziehe ich mir alles über, was ich mitgebracht habe: zwei Hosen, drei Sweater. Ich bin froh um meine gewalkten Fäustlinge und die Stiefel, die mir Charly ausborgt. Die Innenschuhe aus Filz sind der Unterschied zwischen einem feinen Tag draußen im Schnee und einem bissigen Gesichtsausdruck.
Mit dem Schneefall werden die Hunde unruhig
Mit dem ersten Schneefall verändert sich das Leben im Camp. Wir müssen noch mehr auf alles achten – Werkzeuge, Wasser, die Küche – alles verschwindet oder gefriert über Nacht im Schnee und Eis. Die Wege werden notdürftig gefegt, alle Deckel und Öffnungen, damit sie über den Winter benutzbar bleiben. Die Wasserbehälter wandern über Nacht in die leicht beheizten Yurten, ebenso alle Batterien, alles Gemüse und Früchte, einfach alles, was bei Minus-Temperaturen Schaden nehmen kann. Ganz anders die Hunde, die sich über das Weiss und die Temperaturen aufgeregt freuen. Sie spüren, die Schlittensaison kommt näher, der Auslauf, das Rasen durch den Wald am Zügel, alle auf Kommando von Charly und Ruska.
Mit dem Schnee werden aber auch Arbeiten möglich, auf die im Camp alle sehnsüchtig warten: das Vorbereiten der Schlittenwege zum Beispiel. Die Strecke muss mit Schneeschuhen mehrmals abgelaufen werden, der Schnee „gehärtet“ werden. Eine gute Grundlage ist für die Nutzung während des gesamten Winters absolut notwendig. Auch das gefrorene Fleisch für die Hunde kann erst ab -10° C angeliefert werden. Der Lastwagen lädt mehrere Tonnen an der Straße ab, Charly muss alles über den Forstweg ins Lager schaffen und in die Gefriertruhen stapeln. Da sie nicht über Strom versorgt werden, sind konstante Minustemperaturen Voraussetzung. Dann kann die Reisküche für die Hunde eingestellt werden. Der Wintermodus der Fütterung beginnt.
Taziri (Foto: T. ‚Teddy‘ Elliot Lane)
Mit den fertigen Schneetracks beginnt auch das Lauf- und Techniktraining der Hunde. Während der schneefreien Zeit bekommen sie freien Auslauf in einem eingezäunten Park, für eine arbeitsbedingt kurze Zeit von einer Stunde. Da die Hunde sich ständig in ihrem Rang prüfen, sind Zweikämpfe fast an der Tagesordnung. Das heißt, einer von Charly’s Team muss immer im Park sein, um dazwischen gehen zu können – kleine Bissverletzungen kommen dennoch vor. Am Kennel sind die Hunde deshalb angekettet, ansonst würde das Camp im Chaos der Rangkämpfe untergehen. Mit dem Schneefall werden die Hunde unruhig, da sie endlich vor die Schlitten gespannt werden. Sie haben enorme Zugkraft, viel Ausdauer und unendlich viel Lust durch den Wald zu jagen. Die Leithunde der Schlitten wurden von Charly ausgewählt – nach langen Wochen des Trainings: Wer hört am besten auf seine Kommandos? Wer führt die anderen Hunde?
Mit dem Auslauf im Schnee fällt der Fell- und Pfotenpflege eine besondere, wichtige Rolle zu: die Zehenzwischenräume müssen frei von Haaren sein, damit sich dort keine Eiskristalle bilden können. Sie führen ansonsten zu blutenden Wunden und dem Aus für Tage. Auch das Fell wird gestriegelt, um Verfilzungen zu verhindern. Die Hunde genießen die lange, ausgiebige Beauty-Kur, sitzen mit geschlossenen Augen am Holzboden der Hundeküche, grunzen hin und wieder. Im Anschluss werden sie gewogen, Zähne und Pfoten begutachtet. Die Hunde sind in einer ausgezeichneten Verfassung.
Als ich an einem Sonntag Mittag meinen Abschied vom Camp nehme, heulen alle Hunde nocheinmal groß auf. Mit einem lauten „Silence!“ bringt Charly das Rudel zu einem plötzlichen Schweigen. Wir geben uns die Hand, umarmen uns, sagen „Lebwohl!“ und wünschen uns einen schönen, harten Winter. Mit meinem Rucksack am Rücken gehe ich die einzelnen Kennels ab und verabschiede mich fast von jedem einzelnen Hund. Die Taimyrs und Laika Nennets sind mir ans Herz gewachsen und gerne hätte ich jeden einzelnen mit mir mitgenommen. Koika begleitet mich noch einhundert Meter zum Camp hinaus, bevor ich im Wald verschwinde und meine vier Kilometer Gehweg zum Flughafen marschiere.
Clam, white hands
stroking your fur
your eyes looking up to me
saying
this is the joy of winter.
(’sled dog dreams‘)
Paul O’Malley