Livländisches Erbe

Die Livonische Sprache ist eine austerbende. Das Interesse an der Erhaltung ist dennoch da. Ulla ist ein Beispiel für das wachsende Bewußtsein für das Livländische Erbe Lettlands.


1990 wird Lettland wieder unabhängig. Ich erinnere mich recht wage an die 600 Kilometer lange Menschenkette von Tallinn nach Vilnius, die zum sichtbaren Ruf nach staatlicher Eigenständigkeit formuliert wurde. Ohne Internet, Social Media und Mobiltelefon geht diese Aktion als logistische Meisterleistung in die Geschichte ein. Aber auch Jahrzehnte danach bleibt die Furcht vor dem Verlust der Unabhängigkeit, Russland traut hier niemand. Die drei baltischen Länder betonen ihre Eigenheit, Andersartigkeit von den Russen, auch wenn diese eine bedeutende Minderheit der Gesamtbevölkerung ausmachen. Aber auch untereinander sind die drei Länder kulturell und sprachlich sehr eigen, wenn auch freundschaftlich stark verbunden. Ein solches kulturelles Eigengebilde ist Livonia (lat., Livland), eine Estland nahe stehende Region in Lettland.

Geografisch gesehen bezeichnet Livland heute im engeren Sinne eine Region nördlich von Riga bis zum Peipussee. Historisch war Livland ein weit größeres Gebiet – das Siedlungsgebiet der finno-ugrischen Liven, welche bedeutende Teile des heutigen Lettland und Estland umfasste. Die Liven siedelten vor allem entlang der Küste – also westlich und östlich der Rigaer Bucht. Im historischen Kurland bildeten die Blauen Berge bei Slitere nicht nur eine landschaftliche sichtbare, sondern auch eine linguistische Grenze zwischen den Liven und den lettisch-litauischen Stämmen.

Grün-Weiss-Blau

An einem dieser Küstenlandstriche lebt Ulla mit ihrer Familie. Das große Grundstück, das ihre Großeltern bereits vor der Sowjetübernahme im Eigentum hatten, ist heute unter der Großfamilie aufgeteilt – ein Onkel als Nachbar, eine Tante etwas weiter den Strand entlang. Manches wurde an Fremde verkauft. Als Ulla das erste Mal von Riga hierher kam, um das Land zu übernehmen, war es nichts als ausgewiesenes Buschland inklusive Sumpf, der sich bis zum Strand ausdehnt. In wenigen Jahren haben sie daraus ein ansehnliches Anwesen geschaffen: Entwässerungsgräben schützen vor Überflutungen im Herbst und Frühjahr, der dichte Busch wich Rasenflächen, Obstbäumen und einem Teich. Ein kleiner Campingplatz ziert den hinteren Teil des Landes, zum Strand hin steht das eigene Holzhaus von Pinien eingerahmt, und dazwischen das als Einkommensquelle konzipierte Gästehaus; dieses Gebäude aus heimischen Nadelholz und in traditioneller Bauweise – einstöckig mit Schrägdach, die Außenfassade besteht aus vertikal stehenden, sich überlappenden, unebenen und naturbelassenen Baumlatten. Am Giebel whet neben der lettischen auch die lavonische Flagge: Grün-Weiss-Blau. Die Farben stehen stellvertretend für die Küstenregion – Fischer leben von der See (Blau), sie sehnen sich von der Weite nach Hause und erblicken einen sandigen Streifen (Weiss) und dahinter den Wald (Grün).

Im Wohnzimmer des Gästehauses sehe ich eine helle Tracht mit bronzenen Elementen an der Wand, im Buchregal dann livonische Literatur. Ulla erklärt mir, dass es hier in der Gegend vielleicht noch dreißig Bewohner gäbe, die livonisch sprechen. Es ist eine gefährdete Sprache. Ullas Bruder eröffnete in den letzten Tagen ein livonisches Kulturinstitut, dass sich dem livonischen Erbe widmet. Das Ziel ist das Bewußtsein für dieses kulturelle Erbe hochzuhalten, und die Sprache steht dabei im Mittelpunkt: http://www.livones.net/en. Die Seite berichtet über die Geschichte der Region, die Kultur, Ereignisse und lehrt auch die Sprache mit einer täglichen Kolumne. Die Sprache selbst ist dem estnisch nahe stehend, viele Wörter sind entlehnt.

Lettische Diaspora

Ullas Geschichte ist typisch für die livländische Region: viele Liven wurden in den früheren Jahrhunderten von den Nachbarstämmen assimiliert, die Anzahl der muttersprachlichen Liven ging ständig zurück. Eine innerlettische, aber auch weltweite Diaspora setzte ein: die meisten Bewohner dieser Küstenregion sind nach Riga gezogen, während der Sowjetzeit, aber auch später nach der Unabhängigkeit. Die wirtschaftliche Herausforderungen und das komfortablere Leben in der Großstadt machten die Entscheidung oft einfach. Nun aber kehren die jungen Generationen langsam zurück, das Leben am Land hat seinen Reiz, moderne Technologie macht Beruf und Geldverdienst mit der Entfernung wesentlich leichter vereinbar. Aber Ventspils, die größte Stadt an der baltischen Küste im ehemaligen Kurland, wirkt immer noch verschlafen. Die Stadt ist aufgeräumt, doch es fehlen die Menschen in den Straßen. Diaspora. Viele gehen nach Deutschland, England, Schweden, meint Ulla. Aber das ist ein Gesamt-Lettisches Problem, nicht nur das der Region um Ventspils. Rund 400.000 Letten (bei einer Einwohnerzahl von knapp 2 Millionen) leben permanent im Ausland.

Auch Ulla ist viel herumgekommen. In Estland studiert, mehrere Jahre im Ausland gereist und gearbeitet, auf einem dieser Trips ihren Mann Toby kennengelernt. Der gebürtige Engländer, der auch schon in St. Anton am Arlberg als Saisonarbeitskraft tätig war, versucht sich im Lettischen und ist heilfroh, einigermaßen durch den Alltag zu kommen. Vom Livonischen versteht er kein Wort. Von den drei Kindern spricht der Älteste (8 Jahre) fließend Lettisch und Englisch. Livonisch? Fehlanzeige. Aber Ulla ist bestrebt, das Erbe ihrer Kultur an ihre Kinder weiterzugeben. Ist das die Zukunft? Die Sprache hat vielleicht keine praktische Bedeutung mehr, meint Ulla, aber sie ist ein Teil unserer Identität. Und diese möchte sie ihren Kindern mitgeben.


A few clouds of a brisk sky,
yellow leaves dropping effortless,
no voices, no steps,
the river Irba meets the Baltic Sea,
green, white, blue,
the Livonian coast stands still.

(‚The water of silence‘)

Paul O’Malley



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