Next Station Napoli Centrale


Die Erinnerung ist noch frisch, weht in mir wie die Fahnen über der Stadt, über der See. Jonna installiert gerade ihre Kameras am Dach des B & B Hotels, ich aber blicke herunter auf die Straßen von Napoli, der Verkehr fließt langsam, es ist noch wenig los, es sind gerade dreissig Minuten nach fünf Uhr morgens.

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Wir haben uns für zwei Tage von der Ganesha ausgeklinkt, die in Agropoli in der Marina festgebunden ist. Sie wartet dort auf besseren Wind, der sie nach Sizilien bringen wird. Der Weg nach Neapel war eine spontane Idee, eine Gelegenheit, die wir nicht verpassen wollten. Ich roch diese Möglichkeit, bildete mir ein, Neapel könnte ein unbekanntes Juwel sein, ein geheimer Ort, eine Fatamorgana, die wir vom Meer aus verpasst haben, aber jetzt offeriert bekommen. Wir nahmen den Zug nach Napoli Centrale und dachten keinen Moment mehr zurück.

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Wir lassen uns in den Straßen der Stadt treiben. Es macht hier alles einen verwegenen Eindruck. Seine Fassaden aus abbruchreifen Häusern, reparaturbedürftigen Dächern, auf den Balkonen wehende Wäsche, der Müll auf den Straßen, die wenigen Bäume, dem Gehupe der Autos und Roller. Das Kopfsteinpflaster, die riesigen Innenhöfe, die in Nebengassen versteckten Paläste. Graffiti, Ausgrabungen, Museen, Bars, der Geruch des Brotes und der Vergänglichkeit, die Ströme von Menschen, die unentwegt zwischen den Steinwänden fließen. Jonna nimmt jedes Objekt in das Visier ihrer Kamera, ist durchgehend beschäftigt, von einem Motiv zum nächsten zu gelangen, sichtlich erregt über diese fotogene Stadt, ihre Details, die ihr ins Auge springen und am nächsten Tag in dieser Konstellation nicht mehr da sein werden. Wir wollten Atmosphäre riechen und bekommen weit aus mehr in Napoli Centrale. Der Duft der Stadt überwältigt uns und kriecht in unsere Glieder, wir lassen uns gerne anstecken, von der Magie, die dieser Ort auf uns ausübt. Der Ort, die Zeit, alles fühlt sich richtig an.

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Es wird Abend, die Sonne senkt sich über dem Meer in den unendlichen Horizont, wir warten als eine der Ersten vor dem Restaurante Sorbillo, einer Ikone der Esskultur Napolis, die Stadt, in der die Pizza erfunden wurde. Eine halbe Stunde vor Einlass bildet sich schon eine beträchtliche Schlange, und später, als wir drinnen Platz nehmen und uns über eine der besten Pizzen hermachen, sind in den ersten Minuten über siebzig Tische besetzt, während vor der Türe Dutzende Leute warten und geduldig durch die Fenster in das Innere des Lokals starren. Wir lassen uns die Reste einpacken und finden in der hereinbrechenden Nacht die Straßen, die uns zurück auf unser Dach über der Stadt bringen. Es ist eine lauwarme Nacht, das Leben regt sich in mir, wir stehen noch lange unter den Sternen und einem Feuerwerk, betrachten von der Terrasse einen Nachthimmel und das Geschehen der Straße unter uns, irgendwann haben wir wieder Hunger, tilgen die mitgebrachten Reste, Erinnerungen an Vicky, Christina, Barcelona kommen hoch. Nicht einmal zwei Nächte sind wir von Bord, die Ganesha scheint weit weg zu sein, wie alles, was gerade mal mehr als einen Tag her ist. Mich verwundert diese Tatsache, dass Vergangenes so schnell verblasst, aber wahrscheinlich ist es nichts weiter als ein Indiz, dass wir dem Ideal, im Moment zu sein, nähergerückt sind, mehr als je zuvor. Oder es ist einfach nur eine Form von Land Sickness, Jonna träumt von einem schwankenden Boden, ich stütze mich mit einem Arm gegen die Wand, wenn ich im Hotel in die Dusche steige und mir das kalte Wasser den Rücken herunterläuft.

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Ich blicke auf die Straßen der Stadt herunter, betrachte das Geschehen aus einer erhöhten, unnahbaren Position. In der Ferne thront der Vesuv über der Bucht, in einer seiner Flanken lodert ein Waldbrand, dunkle Rauchschwaden vermischen sich mit dem orangenen Morgenlicht der aufgehenden Sonne, die sich den Himmel mit dichten Regenwolken teilt. Wir kehren zurück auf die Ganesha, und ich denke mir, diese Reise ist nichts anderes als ein Zug, der Tag für Tag Stationen anfährt, die Jonna und mir etwas näher bringen wollen: das Leben. Es sind Stationen wie Napoli Centrale, chaotisch und bunt.


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