Illimani: Schneegewitter im 5400m-Biwak
Wir sitzen auf der Bordsteinkante, Calle Illampu im Zentrum‘ La Paz, zwei 75-Liter Rucksäcke hinter uns an die noch geschlossene Geschäftsfront gelehnt, behängt mit Zelt, Helm, Seil. Passanten gehen vorbei, andere bauen ihre mobilen Geschäftsstände auf, ein Hund streunt herum. Die pralle Sonne dringt noch nicht bis zur Straße hinunter, aber es ist jetzt schon warm, und unser Fahrer verspätet sich. Unsere letzte Tour. Unsere letzte Ausfahrt aus der bolivianischen Metropole. Fast schon eine Routine. Verpflegung für vier Tage zusammenstellen, Fahrer und Unterkünfte organisieren, packen, umpacken, Depot zurücklassen.
Wir sitzen auf der Bordsteinkante, Calle Illampu im Zentrum‘ La Paz, ich denke an die Wetterprognose und ob es sich lohnt, die vier Tage in etwas wenig zu Realisierendes zu investieren. Aber vier Tage in La Paz? Lärm, urin-getränkte Straßenluft, beengte Hotel-Zimmer? Ich schließe kurz die Augen, und es ist sonnenklar, dass wir hier weg wollen. Der Fahrer kommt und wir sind für drei Stunden Gäste in einem stickig-heißen Wagen, dessen Seitenfenster sich nicht öffnen lassen, auch weil die staubigen Straßen, auf denen wir über Pässe und durch Canyons rollen, dies nicht zulassen. Etwas benommen steigen wir in Pinaya (ca. 3.900 m) aus, satteln die schweren Rucksäcke auf Maulesel und starten ohne großes Herumgetue zum zwei Stunden entfernten Basecamp (ca. 4.400 m) auf. Eigentlich nichts anderes als eine große Pferdeweide, auf der bereits andere Zelte stehen – zwei andere Teams, die auf den Illimani steigen wollen.
Am nächsten Morgen sehen wir, wie dies funktioniert: Bergführer, Koch und Träger. Wir brechen früh auf, um den Tross zu entgehen. Auf dem Sattel (ca. 4.900 m) zum Hochlager holt uns der erste Träger ein. Dann kommen die anderen. Es sind Frauen. Ein Teil davon bestimmt älter als sechszig. Die haben gleich viel Gepäck auf dem Buckel wie wir. Mit Sandalen laufen die da hoch, dahinter die Bergtouristen mit ihren Jauserucksäcken. Woa! Scham? Wut? Ungläubigkeit! Und daheim vom großen Bergabenteuer erzählen! Ich schüttle den Kopf. Nie, nein, niemals! Entweder ich habe das Zeug, meinen Kram da selbst hinaufzuschleppen, oder ich bin des Gipfel‘ nicht würdig. Da sind wir uns einig, stemmen den Rucksack auf den Rücken und steigen weiter hoch, über dieses unangenehme Geröll aus Platten und losen Steinen. Nach fünf Stunden erreichen wir schneefrei das Hochlager (Nido de Condores, 5.450 m). Kaum ist das Zelt aufgebaut, beginnt ein erster, heftiger Schneefall.
die Trägerinnen auf dem Weg zum Hochlager
Im Zelt leben wir inzwischen recht gemütlich. Es ist keine fremde Wohnung mehr. Kochen aus dem Schlafsack heraus, Zähne putzen, essen, packen. Die Sonne kommt wieder heraus, wir schöpfen aus einer mit Wasser gefüllten Gletscherspalte Wasser, und schauen, wie die Guides und Köche das Essen für die Bergtouristen zubereiten. Wir sind wie fast immer die Ausnahme – tragen selbst, kochen selbst, führen selbst. Das macht uns interessant für die Guides hier, und es entspinnen sich oft neugierige Gespräche, die meist mit einer Mischung aus Bewunderung, Respekt und Verständnis auf Seiten der Führer enden. Sie sehen, was wir machen und was wir machen können, ohne sie (Huayna Potosi, Pequeno Alpamayo).
am Gipfelgrat: Blick zum wenige Meter entfernten Gipfel
Die Wolken rasen über unsere Köpfe in dieser Höhe, und bald geht die Sonne unter und wir sind frohen Mutes, dass das angesagte schlechte Wetter ein paar Kilometer von uns entfernt vorbeistreift. Das tut es leider nicht, der Gringo-Wetterdienst hat es besser im Griff als der selbstvertraute Bergführer aus Bolivien. Um zehn Uhr nachts bricht wie aus dem Nichts ein heftiges Unwetter über dem Illimani aus, Blitze fegen in die Grate und Spitzen in diesem Bergmassiv, Schnee fällt in großer Menge und der Donner brechender Seracs erschüttert unsere ausgesetzte Position am Westgrat. Alles ist so schnell gekommen, dass wir nicht einmal unsere Blitzableiter (Pickel, Schnee-Anker, und anderes „lange“ Metall) in sichere Entfernung bringen können. So hocken wir auf unseren Matten im Zelt, zählen die Sekunden vom Blitz bis zum Einschlag, greifen im Dunkeln in die Haare, um zu sehen, ob sie schon geladen wegstehen, zucken bei manchen knappen Krachern so richtig zusammen, und irgendwann fangen wir einfach an zu essen und uns lustige Geschichten aus Ring of Fire zu erzählen.
Blick zurück zum Südgipfel des Illimani
Die Nacht ist letztlich wieder sehr kurz. Das erste Team macht sich schon um halb Zwei auf, das andere um halb Drei. Wir ziehen um Drei los, wollen nicht ewig in der dunklen Kälte marschieren. An das Frühstücksbrot mit Marmelade denke ich noch später in der Wand. Die einfachen Dinge zählen doppelt. Die Kälte der Nacht beißt an den Fingern und Zehen, aber wir haben die zwei Teams vor uns, die eine Spur durch den tiefen Neuschnee ziehen. Wir profitieren von diesem Dienst, denn der Weg vom Hochlager zum Südgipfel des Illimani ist durchwegs stetig steil. Die Spalten sind recht gut zu sehen, die Route einfach zu sehen. Einige Schneebrücken wirken dünn und fragil, und der Sprung darüber kostet in dieser Höhe Atemluft, so dass wir oft auf der steilen Bergseite für Sekunden pausieren müssen. Im Zick-Zack geht es immer weiter hinauf, die Nacht scheint ewig lang, aber irgendwann bricht die Morgendämmerung durch, und wir haben noch gute zwei Stunden zu gehen. Es schneit noch immer, und mittlerweile sind über zwanzig Zentimeter Neuschnee dazugekommen. Die letzte große Hürde, ein mächtiger Bergschrund knapp unter dem Gipfelgrat, ist offen wie ein Scheunentor, mit einer zwanzig Zentimeter breiten Schneebrücke. Wir springen lieber. Der Weg zum Südgipfel (6.438 m) ist nicht mehr allzuweit und steil, aber wir haben unser Pulver verschossen und müssen uns recht langsam hinaufquälen. Wir pushen uns gegenseitig. Mal brauche ich mal eine Pause, mal sie. Am Seil kann man kein eigenes Tempo gehen, am Seil ist man angebunden.
im Hochlager mit Blick auf die Route
Der Gipfel selbst ist unscheinbar, und wir haben wieder einmal Schwierigkeiten, den Scheitel richtig zu lokalisieren. So laufen wir einmal darüber und wieder zurück. Der Wind ist hier besonders stark, aber er bläst die Wolken weg und wir sind heute wohl die Einzigen, die einen passablen Rundumblick bekommen. Die anderen zwei Teams sind mittlerweile auf dem Weg retour, völlig leer, aber wir müssen auch noch herunter, und das ist jede Menge Anstrengung. An einer steilen Traverse geht mir ein Steigeisen ab, und schon bin ich im Flug nach unten, in einem Augenblick habe ich zehn Meter Höhe verloren. Reflexartig drehe ich mich auf meine Bauchseite, Liegestütz-Ausgangsposition und bremse den Fall vollständig ab, bevor das Seil greift. Ich krabble wieder hoch, lege die Steigeisen an, und wir steigen weiter ab. Alles Kraft raubend, in über 6.000 m Höhe. Durstig und müde erreichen wir das Hochlager, müssen hier nach einer kurzen Rast alles abbauen, verstauen. Zwischen jedem Handgriff zwei tiefe Atemzüge, und wieder weitermachen. Während die anderen Teams die Last auf die Träger verladen und über den mittlerweile verschneiten Steig absteigen, klettern wir mühsam mit über zwanzig Kilo am Rücken diesen rutschigen Weg ab.
Bedingungen beim Abstieg zum Base Camp
Der Weg ist lang und beschwerlich, und lange nicht vorbei. Der Durst quält uns mittlerweile, und ich treibe mich vorwärts mit der Aussicht auf unser kleines Depot, dass wir zwischen den großen Felsen unweit des Base Camp versteckt angelegt haben. Es ist tatsächlich da, als wir gegen 15.00 dort ankommen. Ich bin glücklich. Das Zelt steht, und ich öffne eine große Dose Pfirsich-Hälften. Und dazu für jeden eine große Cola! Das Leben meint es gut mit uns. Das Leben kriecht in uns zurück. Eine Dose Pfirsich-Hälften, das ist alles, was es manchmal braucht.
Ring of Fire T-Shirts
Über dieses Blog
„Super gsi – Beginner’s Mind“ berichtet über Mark’s Reisen und Outdoor-Aktivitäten, meist Skitouren, Bergsteigen und Bike-Touren. Mehr dazu hier…