Warschau: Lektionen
Jana, deren Alter ich nicht erfahre aber älter als ich aussieht, erzählt mit leerem Blick von ihrer Geschichte. Ich treffe sie in einem Billig-Hostel in Warschau, ich habe Bett 6, sie hat Bett 1, ich habe zwei Rucksäcke dabei und sie ihren gesamten Hausrat. Oder was davon übriggeblieben ist. Seit Monaten sucht sie ein dauerhaftes Zimmer, findet nichts Passendes und wandert von Hostel zu Hostel im Tausch gegen Arbeit für eine freie Unterkunft. Sie ist von alldem erschöpft. Vor zwei Tagen ist ihr Kaninchen gestorben. Sie meint, es waren irgendwelche Gäste, die dem Kleinen etwas zu Essen gegeben haben, dass er nicht vertragen hat. Das Kaninchen war aber auch der Grund, warum sie es mit der Zimmersuche so schwer hatte. Meint sie.
Diese seltsame Geschichte begleitet mich am nächsten Tag im Herzen von Warschau. Ich sehe die Obdachlosen in den Passagen, höre die Betrunkenen an den Ecken, von denen sie sich so sehr fürchtet und meint, dies sei eine Pandemie der polnischen Gesellschaft. Mich lässt das unberührt, weil ich damit nichts zu tun habe. Das ist nicht meine Realität. Ich sehe die Welt aus der Perspektive eines gesunden Mannes mittleren Alters, der keine groben Einschränkungen zu kennen glaubt – ich habe Geld, einen guten Pass, viele Sprachen in meinem Kopf und die unerschöpfliche Fähigkeit mir Fähigkeiten anzueignen. Mir wird klar, dass Einschränkungen eines Tages da sein werden und das, was ich bin – die Fleisch gewordene Beweglichkeit – immer mehr einengen werden. Mit einem tiefen Atemzug steige ich am Morgen auf den Gehsteig, freue mich auf den nebligen Tag, es könnte nicht besser sein.
Die Straße ist großartig und großzügig zugleich. Alleen voller Gelb, botanische Gärten und eine Kompanie Gartenarbeiter. Raben. Die Weichsel und Praga, das Warschau auf der östlichen Uferseite; hochmoderne Bauten und zerfallende Gemäuer. Graffiti und Jahrhunderte alte Kunst. Und dann eine weitere Begnung, die dem Thema ‘Leben’ eine weitere Farbnote verpasst.
Die Geschichte der Stadt kann ohne den Sommer 1944 nicht verstanden werden. Eine der grausamsten und heftigsten Häuserkämpfe des Weltkrieges spielten sich in der Altstadt Warschaus ab. Der Warschauer Aufstand ist ein Markstein im kollektiven Bewußtsein der polnischen Nation, definiert das moderne Polen, legt den Maßstab für Aufopferung und Heldenmut fest. An diesen Taten werden künftige Taten und Generationen gemessen werden. Im Warsaw Uprising Museum (Muzeum Postawnia Warzawskiego) wird die Geschichte auf eindrücklichste Art und Weise wiedererzählt. Die Bilder, die Geschichten, die Ausstellungsobjekte, alles in einem dichten Kontext verwoben, katapultieren mich in diesen Sommer, den die Warschauer so euphorisch begonnen haben: die Rote Armee steht am anderen Ufer zum Angriff bereit, als sich die Bürger erheben. Anfang Oktober ist der Aufstand zu Ende, zehntausende Tote, ein zerstörtes Warschau und eine Rote Armee, die dem Treiben tatenlos zuschaut und die Wehrmacht und den polnischen Widerstand sich gegenseitig aufreiben lässt. Eine ganze Generation Jugendlicher fällt in den Kämpfen, ihre Geschichten sind bewegend und machen mich nachdenklich. Es ist Zeit, auf die Straße zu gehen und weiterzuziehen.
Abonniere dieses Blog
Über dieses Blog
Reisen und die Natur, inklusive Skitouren, Bergsteigen und Wanderungen, das sind die Inhalte meines Blogs "Super gsi - Beginner's Mind". Mehr dazu hier...
Leave a Reply
Want to join the discussion?Feel free to contribute!