Tallinn: Wie ein estonisches Gesicht
Der Bus aus Riga hält an und entlässt mich nicht allzu weit entfernt vom Zentrum Tallinns in den späten Nachmittag. Die Sturmfront ist abgezogen, der Himmel reisst auf und ich orientiere mich die Straßen entlang in die Innenstadt, wo ich auf Siim, Kristina und Martin treffe, bei denen ich an diesem Abend unterkomme. Uns zieht es in eine Pizzeria.
Die erste Szene: eine ältere Frau am Nebentisch wird laut. Sehr laut. Singt und schwingt Reden, die keiner von uns versteht. Lalend steht sie auf und hantelt sich von Tisch zu Tisch. Der Kellner schreitet ein, sie bewirft ihn mit derben Worten und verschwindet fluchend auf die Toilette. Kurz ist es im Lokal ruhig. Dann rüttelt es heftig an der Klotüre, die Frau brüllt, sie kriege die Türe nicht auf. Geschlossen blickt das Restaurant zur klappernden Türe. Der Kellner eilt heran, mit einem Schlüssel in der Hand. Alle denken sich das Gleiche: Willst du sie nicht noch eine Weile da drin lassen? Zu spät, die ältere Frau stürmt hochrot aus dem Klo, brüllt und singt zu gleich, der Kellner droht mit der Polizei, sie will ihn nach Russland zurückschicken, dann räumt sie auch noch den Tisch auf, auf ihre Art.
Zweite Szene: am nächsten Tag bin ich zu Fuß in den Straßen der Stadt unterwegs. Habe mir die alte Bahnwerkstätte angesehen, die jetzt ein Viertel aus Galerien, Restaurants und Ausstellungsflächen geworden ist. Unterwegs zum alten Lufthangar kommt mir eine etwas festere Dame entgegen. Sie zürnt ins Telefon, schreit und schimpft, sie reißt ihre Kiefer bedrohlich auf, als würde sie das Gerät gleich verschlingen wollen. Sie tut es nicht, aber als sie an mir vorbei kommt, beendet sie das Telefonat, in dem sie auf das Telefon spuckt. Ok, wenn das ein Videoanruf war, dann war das ein Statement.
Dritte Szene: Es ist ein eindrückliches Museum, das Schifffahrtsmuseum von Tallinn. Am meisten gefällt mir der Eisbrecher “Suur Töll”, den ich quer durch besichtigen kann. Maschinenraum, Offiziersmessen, Werkstatt, Brücke und die Kabinen der Crew. Vom Bug des Schiffes sehe ich hinüber zum Fährhafen, wo die großen Passagierschiffe über die Baltische See zwischen Finnland, Schweden und den anderen Anrainern verkehren. Die Sonne scheint weiterhin prächtig, ich gehe wieder die zehn Kilometer zu Fuß retour. Unterwegs liegt ein halb-schlafender Betrunkener in der Wiese, während ihn sein ebenfalls besoffener Kumpel mit Fußtritten traktiert.
Es versteht sich von selbst, dass diese drei Szenen nicht repräsentativ für die Stadt sind. Weil jeder andere, den ich sehe, das absolute Pokerface aufzieht. Keine Regung, keine Emotion, kein Lachen. Da streiten sie sich mit den Letten und Litauern um das seriöseste Gesicht. Ich drehe mich um und blicke nochmals auf das vom Wind aufgebauschte Meer. Es ist eisblau und unberührt. Wie ein estonisches Gesicht.
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Reisen und die Natur, inklusive Skitouren, Bergsteigen und Wanderungen, das sind die Inhalte meines Blogs "Super gsi - Beginner's Mind". Mehr dazu hier...
Hey Mark,
also deine ersten beiden geschilderten Szenen haben sofort meine visuelle, rechte Gehirnhälfte aktiviert und mir eine amüsante Simpsons-Parodie geliefert.
Für ein paar Sekunden war ich selbst vor Ort und habe die Szenarien (auf meine Art) erlebt… Cheers, hat mich zum lachen gebracht!!! 🙂
Ja, die beiden Frauen hatten die Emotionen von allen Esten der Stadt in sich vereint. Die eine anständig besoffen, die andere richtig sauer. 😀