Vilnius: ein Sammelband der Geschichte
Die kleine Bombardier-Maschine rüttelt sich durch die Gewitterwolken von Minsk nach Vilnius. Wir setzen im Seitenwind ruppig auf und sprinten von der Maschine im Wolkenbruch in den wartenden Bus. Keine halbe Stunde später bin ich im Zentrum der Stadt. Der erste Eindruck ist verwirrend – es ist Herbst, die Straßen nass und die Ordnung aus Minsk völlig verschwunden. Zwei Betrunkene pöbeln im Bus, Graffiti-beschmierte Wände empfangen mich. Für einen Moment wünsche ich mir Minsk zurück.
Andrius lässt mich das alles vergessen. Wir sitzen am Tisch in seiner kleinen Küche, er raucht zum Fenster hinaus, Tee kocht. Wir kosten frische Tomaten aus dem Garten seiner Eltern. Andrius erzählt mir von seinen Jahren im Nahen Osten, Istanbul und Palästina hauptsächlich. Vom Putschversuch, von den Bombenattentaten am Bosporus, aber auch von den täglichen Schwierigkeiten der Palästinenser in der Westbank. Und von Litauen? Von der Sowjetunion hat er nicht mehr viel mitbekommen, aber die Erzählungen seiner Eltern sind aufschlussreich, besonders im Hinblick auf das baltisch-russische Verhältnis: die Jahrzehnte langen Bemühungen, Revolten und Bewegungen, die Litauen wieder in die staatliche Unabhängigkeit führen sollten. Die Opfer gingen in die Hunderttausende.
In der Stadt sehe ich wieder große Reisegruppen, die ersten seit Kerry im Mai. Meist Polen, aber auch russisch-sprechende, Amerikaner und Mitteleuropäer. Vilnius war früher eine jüdisch-polnische Stadt, bis zum Krieg. Der jüdische Anteil verschwand im Genozid der Nazis und der Litauer, die Polen wurden von den Russen vertrieben.
Vilnius ist heute eine völlig andere Stadt. Ich betrachte die alten, verwinkelten Gassen wie der Rest der Besucher aus einem romantisch-naiven Blickwinkel. Kirchen reihen sich wie auf einer Perlenkette auf. Alles ist schön restauriert und herausgeputzt, eine schmucke Stadt, deren Fußgängerzonen am Wochenende vor Besuchern platzen. Die Cafés fabrizieren Sonntagsstimmung und ich finde im Lukiskiy Park eine Bücherinsel samt Liegeplatz, den ich mit einem Sammelband zur zeitgenössischen litauischen Poesie in Beschlag nehme.
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Reisen und die Natur, inklusive Skitouren, Bergsteigen und Wanderungen, das sind die Inhalte meines Blogs "Super gsi - Beginner's Mind". Mehr dazu hier...
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[…] Ausführungen ihrer Stadtführer folgen kann. Die Stadt ist anders als ihre Schwestern im Süden (Vilnius und Kaunas): wesentlich größer, die Innenstadt hat nicht diesen Kleinstadt-Charakter. Sie ist […]
[…] fährt zu einem Auftrag in den Norden Litauens und nimmt mich im Auto nach Kaunas. Wir verlassen Vilnius im Stau und Nebel, in Kaunas strahlt dann die Herbstsonne. Ich komme in einem schmuddligen Hostel […]
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