Minsk: am Tag
Meine Minsker Lieblingsplätze habe ich nach zwei Tagen definiert: die vielen Parks. Gorky, Sciapanauski, Marata Kazieja, Kupaly. Dutzende weitere prägen Minsk, das ein besonderes Lebensgefühl vermittelt. Für uns Europäer, die eher bedrängte Lebensverhältnisse kennen, eine Wohltat. Wir rasten immer wieder in den bewaldeten Flächen der Stadt, der Schatten ist auch im weissrussischen Spätsommer immer wieder notwendig.
Der Eindruck, den ich in den Nächten gewinne, reproduziert und verstärkt sich während des Tages: Ordnung durch und durch, im Verhalten der Menschen, des Verkehrs, aber auch im Stadtbild. Es geht niemand bei Rot über die Straße, die Menschen halten sich sklavisch an Zebrastreifen. Rasen wird nicht betreten, Müll ordentlich im Kübel entsorgt. Dabei fehlen überall die bei uns wild wuchernden Verbotsschilder.
Das Kunstmuseum ist klasse, aber die Graffiti im Künstlerviertel stechen heraus. Gebäude-groß. Bunt. Mit viel Botschaft. Und das ist es, sage ich mir, jetzt habe ich es durchschaut. Es ist eine einzige Botschaft, die es in sich trägt, egal welches Bild vor meinen Augen erscheint: die Fassade. Es sind nichts als Fassaden und die ganze Stadt ist eine Fassade. Die prachtvollen Gebäude, die sauberen Straßen, die Monumente, ja vielleicht auch das emotionslose Verhalten auf dem Gehsteig.
Nun beginnt eine andere Reise und Matthias und ich sind auf der Suche nach Perspektive, nach der dritten Dimension, die Fläche interessiert uns nicht mehr. Wir wollen hineinblicken und sehen, wie es drinnen aussieht, in der weissrussischen Seele. Zugegeben, in vier Nächten und vier Tagen ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch tun sich kleine Scheuklappen auf und winzige Türchen.
Die meisten Jungen träumen von einem Leben im Ausland, zumindest von einem Studium, einem Semester oder vielleicht einer Reise, von einem Ausflug. Ein Flug nach Rom? Ein Job in Barcelona? Ein Segelschein für das Leben auf dem Meer? Das kommt mir alles sehr vertraut vor, in meiner Seele wie in der von vielen anderen, die ich unterwegs getroffen habe. Das Schengen-Visa und das notwendige Kleingeld sind die großen Hürden, an denen die meisten scheitern. Die Einkommen sind lächerlich niedrig, und im Vergleich steht Minsk mit den anderen Regionen Weissrusslands mit Abstand am besten da. Während die alte Generation noch der materiellen Sicherheit der Sowjetunion nachtrauert, sehen die anderen wenig Perspektiven für ihre Zukunft. Veränderungen gibt es wenige, die Politik ist in der Hand einer einzigen Staatspartei, und Forderungen werden als Aufruhr mit Gefängnis oder subtileren Mitteln wie Verweis von der Uni geahndet. Der Rückzug ins Private (siehe auch Iran) ist die einzige Konsequenz und bestimmt das Straßenbild: Ordnung vor der Fassade.
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