Klaipeda: Perlen aller Art
An einem regnerischen Mittag entläßt mich der Bus aus Kaunas in Kleipeda (Memel). Die Luft riecht gut, unter einem Dach organisiere ich meine Sachen für einen Marsch in die Stadt: der große Rucksack am Rücken, der kleine vorne, das Smartphone mit der digitalen Stadtkarte in der Linken, den Fotoapparat in der Rechten. Keine einhundert Meter später erhalte ich eine ungewöhnliche Einladung zum Lunch: im Stadtpark winken mir zwei Obdachlose freundlich zu, von ihrem Kartoffelsalat mitzunaschen. Ich danke freundlich und schlendere zwischen Bäumen und Skulpturen zum Fluss Dané, dann stoppe ich am ersten Schaufenster und blicke in den Spiegel, prüfe eine mögliche These: Haben die beiden mich eingeladen, weil sie mich für einen von ihnen halten?
Die beiden Herren waren gewiss die fröhlichste Erscheinung an diesem Tag. Das litauische Gesicht, welches üblicherweise in der Straße zur Schau getragen wird, ist seriös und ernst, emotionslos und ohne Blickkontakt. Ich fühle mich wie in den heimischen Straßen und biege reflexartig zur Marina ab, als unmittelbaren, handfesten Beweis, dass ich an der Baltischen See bin und nicht an der Dornbirner Ach. Bald klart der Himmel auf, mehr Leute strömen auf die Straße, im Wasser tummeln sich Tretboote und Angeber fahren mit brummenden BMW und schweren Goldketten am Parkplatz vor. Ich verstehe: die Welt ist so, wie wir sie wahrnehmen.
Ich verbringe den Nachmittag in der Stadt, meist am Flussufer unter Bäumen und im Schatten der Segel, bis ich meine Couch für den Abend in Beschlag nehme. Die zwei Brüder, bei denen ich unterkomme, haben noch zwei weitere Dinge gemeinsam – die Leidenschaft für den Rudersport und die Energie für Shooter-Spiele. Das geht bis in die Nacht, meine Augen machen vorher schon schlapp, und am nächsten Morgen bin ich schon längst aus dem Haus, bevor die zwei das Morgenlicht entdecken. Ich nehme die Fähre auf die Kurische Nehrung, eine 96 km lange, schmale Halbinsel, dann den Bus bis nach Nida an die russische Grenze. Von einer fünfzig Meter hohen Düne sehe ich in das Kurische Haff. Segelboote schleichen in der sanften Brise durch das Wasser, Erinnerungen an den letzten Sommer blitzen auf, dann packe ich mein Handtuch, ziehe die Hose über und marschiere durch dichten Kieferwald zurück zum Haus von Thomas Mann, die Vögel pfeifen in den Bäumen und ich setze den Fuß vor den anderen, allein auf weiter Flur.
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Reisen und die Natur, inklusive Skitouren, Bergsteigen und Wanderungen, das sind die Inhalte meines Blogs "Super gsi - Beginner's Mind". Mehr dazu hier...
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[…] Etwas verschlafen schlendere ich in das Zentrum der Stadt. Die Sonne steht bereits über den Häusern und es könnte wie in jeder anderen Stadt Mitteleuropas sein: Verkehr, Cafés, grüne Bäume in Parks und Menschen auf dem Arbeitsweg. Wäre da nicht dieses krächzende, ja lästernde Geschrei von Möwen, irgendwo, ich sehe sie nicht, aber sie müssen sind auf den Dächern tummeln, ganz gewiss. Es beschwingt mich, ich erinnere mich: ich bin an der Baltischen See. […]
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