Minsk: bei Nacht
Und dann bin ich da: Minsk, Zentralbahnhof, der Mond scheint auf mich herab und warme Luft strömt mir entgegen. Die Lichter der Stadt streichen die Fassaden der prächtigen Gebäude entlang. Ich bleibe stehen und schaue um mich, drehe mich an Ort und Stelle im Kreis, gut, sehr gut, ich genieße den Augenblick, noch etwas mehr, dann setze ich den ersten Schritt und suche nach Matthias.
In den breiten Boulevards ist wenig Verkehr. Hin und wieder einzelne Scheinwerfer, es ist kurz vor Mitternacht, die Lokale haben noch offen, Menschen sitzen draußen. Das gedämpfte Licht auf den Tischen taucht deren Gesichter in gelbe Farbe. In den tiefen Canyons der Stadt fühle ich mich winzig und dennoch geborgen. Minsk wirkt wie eine wohl-warme Insel in einer gefährlichen Welt. Die Gehsteige blank und sauber, der Belag in perfektem Zustand. Die Häuserwände ohne Graffiti, die Verkehrstafeln alle gerade und ohne Rost, die Autos perfekt geparkt. In welcher Welt bin ich, frage ich mich, dort oben hängt ein roter Stern, dahinten steht die Büste Lenins, aber das ist nicht das Bild, dass ich im Kopf mitgebracht habe, eines von leeren Regalen und aufgerissenen Straßen, von mürrischen Gesichtern und dicken Pelzmänteln.
Wir wandern weiter durch die Minsker Nacht, nun an der Seite von Sasha, die Sterne klar und deutlich und die Stille der Stadt unermesslich laut. Ich höre unsere Schritte und meine Gedanken, dann das Rauschen eines Trolley-Bus, der uns in die Vorstadt bringt. Die große Siedlung schläft, die Bäume schwanken im Wind.
Als wären die Minsker Nächte ohne uns nicht am Leben, verlassen wir immer wieder die Zwei-Zimmer Wohnung mit dem hellen Dielen-Boden und alten Blumen-Tapeten, besorgen uns an Straßenständen einen Happen – Kartoffelpuffer oder ein Käsesandwich – und folgen dem Straßenlicht. Die Wege sind weit und angenehm, wir streifen wie gestiefelte Kater durch die Dunkelheit und finden hell erleuchtete Eingänge, hinter denen sich kleine und größere Höfe auftun, die uns das Minsker Nachtleben erschließen.
Das Leben ist erschreckend normal. Die Lokale könnten nicht hipster sein als bei uns, das Bier nur unwesentlich billiger. Die Musik hämmert laut und ungestüm, die Besucher im tiefen Schwatz vertieft. Auf dem Parkplatz vor der großen Ausgehmeile an der Kastrycnickaja sitzen junge Leute in Campingstühlen und im Kofferraum ihrer Autos, feiern ein Gegenfest, wollen den für weissrussische Verhältnisse unverschämten Preisen den Mittelfinger zeigen. Die Straße ist so und so voll mit Nachtgängern. Das ehemalige Industrieareal ist wie geschaffen dafür, großflächige Mauerkunst säumt die ansonsten trostlose Brickstein-Atmosphäre.
Die Nacht bleibt belebt bis der Tag über dem Horizont erscheint. Keine Polizei zu sehen, alles geht sehr zivilisiert über die Bühne. Ich höre keine Flaschen, die auf dem Gehsteig zerbrechen, keine Argumente zwischen Gruppen, sehe nichts, was irgendeine Ordnungsmacht erforderlich machen würde. Es ist erstaunlich und irgendwie surreal. Spät ziehen wir langsam heimwärts. Die Stadt wirkt wie ein lebensgroßes Sandkasten-Modell – fantastisch entworfen und ohne Gebrauchsspuren. Es geht nicht in meinen Kopf. Ist Minsk nur eine Stadt, die ich nicht durchschaue, die ich nicht durchbrechen kann?
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Reisen und die Natur, inklusive Skitouren, Bergsteigen und Wanderungen, das sind die Inhalte meines Blogs "Super gsi - Beginner's Mind". Mehr dazu hier...
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[…] Der erste Eindruck ist verwirrend – es ist Herbst, die Straßen nass und die Ordnung aus Minsk völlig verschwunden. Zwei Betrunkene pöbeln im Bus, Graffiti-beschmierte Wände empfangen mich. […]
[…] Meine Minsker Lieblingsplätze habe ich nach zwei Tagen definiert: die vielen Parks. Gorky, Sciapanauski, Marata Kazieja, Kupaly. Dutzende weitere prägen Minsk, das ein besonderes Lebensgefühl vermittelt. Für uns Europäer, die eher bedrängte Lebensverhältnisse kennen, eine Wohltat. Wir rasten immer wieder in den bewaldeten Flächen der Stadt, der Schatten ist auch im weissrussischen Spätsommer immer wieder notwendig. […]
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