Baku: Hinterlassenschaften
Mein etwas liebloses Hostel meide ich von früh bis spät, aber in meinem Bett schläft es sich passabel. Auf der Toilette dann ein Wiedersehen mit alten Freunden: das Klopapier à la Ostblock. Eine Rolle Krepp. Ich sollte mir eine mitnehmen, die ist für vieles gut. Draußen auf der Straße wird mir das Sowjet-Erbe noch einmal bewußt. Ich sehe kyrillische Aufschriften “CCP” auf historischen Schulgebäuden. Ich entdecke Gebäude, die auch in Moskau zu finden wären. Monumente, die die Sowjets in ihrer Obzession für Symbolik bewußt umgestaltet haben. Und alles, was größer und mächtiger war als sie selbst erschaffen konnten, wurde radikal geschliffen. Das nicht mehr Sichtbare ist vielleicht eines der größten Hinterlassenschaften der Sowjet-Zeit. Das Verlorene als ewiges Zeugnis einer Ära. Raffiniert. Beispiele in der jüngeren Geschichte? Das World Trade Center in New York, die Buddha-Statuen in Bamiyan, die Sidi-Yahia-Moschee in Timbuktu, Palmyra in Syrien, … eine ewig lange Liste.
Ich ziehe die Türe auf, trete in den ersten, hellen Raum, Bücherregale an der Wand und langsame Jazz-Musik in der Luft, noch leere Stühle und Sofas, aufgeräumte Salontische und sauberer Boden. In wenigen Schritten erreiche ich im nächsten Raum die Theke, grüße Mika und bestelle mir einen Cappuccino, belege den nächsten größeren Tisch und bereite darauf meinen Arbeitsplatz für den Tag vor. Minuten später, das Mädchen hinter der Theke ruft meinen Namen, hole ich den zweiten Teil meines Frühstücks. Ich bin der einzige Gast im Coffee Moffie, einem lokalen Treffpunkt von Kino-Freunden. Untertags gut besucht, am Abend immer wieder Ort der Live-Musik.
Unter den Bäumen von Baku flaniert es sich gut. Kurze Röcke, flatternde Haare, Sonnenbrillen und Schaulaufen. Dönerrestaurants und Kaffeehäuser, Parks und romantische Treppen mit Blick auf das Meer. Das Schachspiel ist ein Volkssport. Das moderne Aserbaidschan hat Geld, der Konflikt mit Armenien wartet auf seine nächste Runde, ein europäisches Land mit einer muslimischen Bevölkerung. 1.700 Kilometer östlich von Istanbul. Die Russen hatten noch zu Zeiten des Zaren Nicholaus II die erste Mädchenschule der muslimischen Welt in Baku eröffnet, wenige Jahre später fiel dort bereits das Kopftuch. Als der Öl-Boom ausbrach, erweiterte sich die mittelalterliche Stadt um einen europäischen Neubau-Ring, und um 1900 lieferte die Stadt die Hälfte des weltweit benötigten Erdöls. Und heute? Das Öl-Geschäft pumpt immer noch Geld in die Stadt, wenn auch die Abhängigkeit vom Öl weiterhin immens groß ist. Aserbaidschan bereit sich auf eine andere Zukunft vor. Wie diese aussehen wird, das weiss noch niemand so genau.
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Reisen und die Natur, inklusive Skitouren, Bergsteigen und Wanderungen, das sind die Inhalte meines Blogs "Super gsi - Beginner's Mind". Mehr dazu hier...
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