Karhorn: Wenn es nur für jetzt ist
Seit einer guten Stunde arbeite ich mit der Feile, Zug für Zug, nicht über meine Handflächen, die auch etwas Aufmerksamkeit bräuchten, wegen der vielen Schwielen von den Griffen in der Kletterhalle. Die Zacken sind stumpf, die Spitzen rund, und das wird mir einmal zum Verhängnis, wenn sie so bleiben wie sie sind, denn das Eis ist irgendwann stärker und der Fels kniffliger, und wenn der Halt nachgibt, der Fuss nach unten rutscht, das Eis spilttert und der Fels bröckelt, dann ergibt sich zuerst mein Bein der Schwerkraft, und vielleicht dann der ganze Körper. Zug für Zug feile ich die Spitzen der Steigeisen nach, eine wunderbare Monotonie der Bewegung.
Wenn es nicht für immer ist, wenn es nur für jetzt ist. Jetzt. Der Grat sieht immer noch lang aus, die Türme scheinen nicht aufzuhören, denn hinter jedem Gendarm kommt ein neuer und ein nächster. Die Handschuhe sind triefend nass vom Schnee, in dem ich beständig wühle und nach einem Griff suche, oder nach einem Halt für meine Eisgeräte, oder dem irgendwo verborgenem Stahlseil des Klettersteigs, der hier am Ostgrat zum Gipfel des Karhorn (2.416 m) führt. Nicht selten tauche ich bauchtief durch irgendwelche Wechten, hantle mich an den Eisgeräten von Kopf zu Kopf, oder einfach eine steile Schneebahn hinauf, von der ich nicht weiss, ob darunter eine Platte verborgen liegt oder ein Grashügel, ob es mein letzter Tritt ist für immer oder ein weiterer Tritt nach oben.
das Karhorn (Bildmitte hinten), der Ostgrat von links zum Gipfel
Gratklettereien im Schnee und Eis! Mit Skischuhen und Steigeisen, besser nicht lange nachdenken am Skidepot, Klettergurt anlegen, eine Bandschlinge mit einem Karabiner, für welchen Fall auch immer, und dem Gipfel entgegengehen. Vom Grat sehe ich hinunter ins Skigebiet Salober, wie Ameisen fahren die Gäste auf den Pisten, und hier oben, an einem ausgesetzten Schneekeil, stehe ich da mit den zwei Eisgeräten in der Hand, und denke, es ist nicht die Entfernung, die uns trennt. Jeder Schritt ist ein Schritt ins Ungewisse, hält der Schnee, hält der Fels, eine Frage des Moments, von denen es an diesem Tag Tausende gibt. Erst zurück am Skidepot beginne ich nachzudenken, beginnt Geschichte. Ich bin den Grat zweimal gegangen, einmal hinauf, einmal hinab. Habe kleine Rutsche ausgelöst. Habe Schnee gegessen, habe die Berge um mich herum unter dem Gipfelkreuz sitzend fast greifen können. Ich habe eintausend Momente gehabt, die sich nahtlos aneinander reihten. Und jetzt vergangen sind.
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