Martinswand: die einzige Konstante, der Berg
Wir durchstöbern gemeinsam seine Kisten. Kisten voller Geschichte, Alpingeschichte der Nachkriegszeit. Die ersten Eishaken, Holzkeile, Nägel, selbstgebastelte Handbohrer, alle Arten von Steigeisen, Hämmern, Friends. Ich bin wie in einem Archiv der Generation des kühnen Mittelmaß, wie Gernot sich und seine Innsbrucker Freunde gerne bezeichnet. Es ist bereits nach Mitternacht, und wir haben erst einen Teil dieser Schätze gehoben, in seinem Ausrüstungsraum. Jede Expresse hat eine eigene Geschichte, einen eigenen Namen. Gernot erzählt sie gerne, mit einem Leuchten in seinen Augen und einem Schmunzeln im Mundwinkel.
durch Lärchenwälder zum Föhrentango
Zu dritt brechen wir auf in eine Route in der Martinswand, ein sehr beliebter Ort der Innsbrucker Kletterszene, und entsprechend dem Andrang weiss Gernot sofort, wo wir hin müssen: weit weg an den Rand, wo keiner hinauf steigt und keiner stört. Gernot ist gute 80 Jahre und klettert immer noch den 6ten Grad alpin. Ich habe kaum Luft zu holen, so viele Fragen quellen aus meinem Kopf, 60 Jahre Kletter-Erfahrung, rund 3.000 Routen im Körper, Gernot ist mehr als ein Lexikon, er ist der Über-Mentor. Und so steigt er vor, mit roten Socken, Wollpullover und ohne Helm, führt uns die Route hinauf, bis zum Abseilpunkt, und später ins Kaffee13 in Zirl zu Haselnusstorte und Milchkaffee, schließlich unter den Patscherkofel zu sich nach Hause.
Umgeben von Bergen, kennt das Haus nur eines: die Berge. Das Stubaital, der Nordkamm über Innsbruck, das Karwendel. In der Früh blinzelt gar das Dach der Seilbahn der Zugspitze bis zu uns an den Frühstückstisch. Umgeben von Bergen, ihnen ist fast alles im Haus von Gernot und Mary gewidmet. Die Literatur, die Geschichten. Seine Wegbegleiter Ernst und Uli, die zum Abendessen vorbei schauen, Bernhard und Erika, die hier schon öfters waren, Gernot und ich, wir alle lachen lange über männliche Blondinen in Ferentillo, Berg-Liebesgeschichten aller Art, und einem Freund, der nach übereinstimmender Meinung am Tisch wohl die meisten Sturzmeter alpin der Geschichte auf seinen Namen kumuliert haben müsste.
es geht nichts über Berggeschichten
Als alle zu Bett gehen, bis auf mich und Gernot, frage ich nach den essentiellen Dingen. Nein, er habe sich durch die Geburt seiner Kinder nie alpin einschränken lassen. Ja, seine Frau Mary ist oft mit ihm gewesen, aber ihm auch seine Freiheiten am Berg gelassen. Auch wenn er mal drei Tage in einer Route gesteckt ist. Jetzt, in jüngerer Vergangenheit, sind die Routen schwerer geworden. Die Ausrüstung leichter und einfacher, aber er macht fast alles wie früher. Ausprobieren, stürzen, hinaufklettern, entdecken, Haken schlagen, weglos die Gegend durchstreifen. To be raw. Wenn er zurück schaut, dann sind es die Berge, die sein Leben bestimmt haben. Die Berge, die einzige, wirkliche Konstante im Leben eines Alpinisten, im Leben von Gernot.
>auf einer Anhöhe über dem Grieskarbach
Am nächsten Morgen, wir durchstreifen ein Seitental des Inn nach Norden, die Schlucht des Grieskarbachs. So etwas wie den Hinterhof von Gernot, kein Mensch da. Eigentlich ist nie jemand da. Und die Geschichten gehen weiter, über brüchige Routen, Notbiwaks und fesche Damen, die besser klettern konnten als ihre Männer. Der Herbst ist da, die Farben golden, und die Berge im Süden schon im weißen Kleid. Die Klettersaison geht zu Ende, das Skibergsteigen klopft an meine Türe. Ich hoffe, Gernot öffnet auch hier seine Schatzkiste für uns. Die Berge als Konstante.
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[…] genüßlich fort, arbeiten uns über Platten und dann durch einen schönen Kamin wieder nach oben. Gernot hätte diese Route gemocht, und wir nennen ihn spontant den Gernot-Kamin. Spreizen, stoßen, […]
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"Super gsi - Trails & Raids" berichtet über Mark's Reisen und Outdoor-Aktivitäten, meist Skitouren, Bergsteigen und Bike-Touren. Mehr dazu hier...
Wieder einmal schön geschrieben.
Und wenn ich einen Hut auf hätte, würde ich diesen vor Gernot sofort zücken und meinem Respekt zollen. Das ist wirklich unglaublich.
Sein Leben lang am Berg, sogar jetzt noch mit 80 klettert er die Wände nach oben und das nach alter Schule wie früher. Unbelievable.
Das finde ich das Erstaunlichste an den Bergen – die Leute, die dort unterwegs sind, Leute wie Gernot. Macht keinen Wirbel darüber, ist einfach Gernot, der schon immer klettert. Punkt. Aber so voller Geschichten!